ESTLAND/Die 47. Austragung des «Eurovision Song Contest» vom vergangenen Samstag in der estnischen Hauptstadt Tallinn brachte den ex-kommunistischen Kleinstaat der Europäischen Union einen Schritt näher. Abgesehen von der estnischen Tourismusbranche profitierten auch die Vögel vom Schlagerzirkus; in einer Parallelveranstaltung wurde nämlich der virtuoseste Singvogel Europas gekürt.
«Für mich ist die Goldammer der schönste Singvogel der Schweiz», sagt Werner Müller, Geschäftsführer des Schweizer Vogelschutzes. Das digitalisierte Gezwitscher des «Schweizer Vogels des Jahres 2002» hat Müller aber nicht nach Tallinn gesandt, obwohl dort parallel zum 47. «Eurovision Song Contest» vom Samstag eine auf den ersten Blick etwas skurrile Gesangskonkurrenz zwischen Singvögeln im Internet stattfand.
PR-Gag für guten Zweck
«Wir fanden die Idee unserer estnischen Vogelschutzkollegen zwar originell, nahmen aber mangels Zeit und Ressourcen nicht am Wettkampf teil», begründet Müller den Entscheid, die Goldammer nicht ins Rennen zu schicken. Die Idee für den nicht tierisch ernst zu nehmenden Wettbewerb stammt von Urmo Lehtveer vom estnischen Naturschutzverband: «Wir wollen mit dem Wettstreit der Singvögel das Umweltbewusstsein sensibilisieren und die Wertschätzung für die Schönheit und den Reichtum von Vogelgezwitscher steigern.»
Zeitlich lag die Aktion goldrichtig: Während der Austragungswoche des «Eurovision Song Contest» versammelten sich über 1000 Journalisten aus 36 Ländern in Tallinn. Mangels interessantem Klatsch aus dem Showbusiness nahmen viele von ihnen die Gelegenheit wahr, sich über die rund 330 Vogelarten im Naturschutzgebiet Matsalu zu informieren. Das Baltikum dient Millionen Zugvögeln als Rast- und Futterplatz. Gemäss Schätzungen des estnischen Ornithologenvereins fliegen im Frühjahr und Herbst jeweils 10 Millionen Vögel durch Estland, darunter auch Hunderte von Weissen und Schwarzen Störchen, die man in der Schweiz nur noch selten sieht.
Isländischer Goldregenpfeifer
Gewonnen wurde der «Birdeurovision» schliesslich vom Goldregenpfeifer aus dem hohen Norden. Der flötenähnliche Gesang des siegreichen Pluvialis apricaria ist in Island als Frühlingsbote bekannt, wie Urmo Lehtveer sagte, als er am Freitag im Zoo der estnischen Hauptstadt die Ergebnisse verkündete. Gewonnen hat aber vor allem der Vogelschutz, ist doch dem wenig publizitätsträchtigen Thema für einige Tage mehr internationale Aufmerksamkeit geschenkt worden – dem Schlagerzirkus sei Dank.
Tourismusmagnet Natur
Der postkommunistische Kleinstaat Estland hat bezüglich Tier- und Naturschutz von den Fehlern vieler Weststaaten gelernt und seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion viel dafür getan, die Natur zu schützen. Mehr als zehn Prozent der estnischen Landesfläche machen mittlerweile die Schutzgebiete und Nationalparks aus. «Natur pur» heisst denn auch das Schlagwort estnischer Tourismuspromotoren.
Die nördlichste der drei baltischen Republiken hat trotz 50 Jahren staatlich legitimierter Naturzerstörung (Braunkohlekraftwerke, Torfraubbau) noch weitgehend unberührte Wälder und im europäischen Vergleich einmalige Moorgebiete vorzuweisen. Über 1000 Seen sowie 1500 Inseln ergänzen das breite Spektrum an Naturschönheiten.
Spärliche Besiedlung
Der Schutz der Natur ist in Estland ein vergleichsweise leichtes Unterfangen: Lediglich 1,4 Millionen Menschen leben auf einem Territorium mit einer Fläche von 45 000 Quadratkilometern. Damit ist Estland nur unwesentlich grösser als die Schweiz (42 000 Quadratkilometer), beherbergt aber fünfmal weniger Einwohner. Über ein Drittel der Bevölkerung lebt zudem im wirtschaftlichen und politischen Zentrum des Landes, in der Hansestadt Tallinn.
Die spärliche Besiedlung ist mit ein Grund dafür, warum sich in Estland noch viele in Westeuropa längst ausgestorbene Tier- und Pflanzenarten halten konnten. Elche, Luchse, Wölfe und Bären sind in Estland weit verbreitete Säugetiere. Die Wildtiere locken von Jahr zu Jahr mehr Naturfreunde in das vergleichsweise billige Ferienland Estland. Im vergangenen Jahr strömten 3,2 Millionen Touristen nach Estland – darunter auch 6600 Schweizer. 1996 waren es erst 2,4 Millionen Besucher gewesen.
Der Tourismus boomt. Elf Jahre nach der Wende verfügt das Land über ein dichtes Netz an Infozentren. Auf den wie Pilze aus dem Boden geschossenen estnischen Tourismus-Bauernhöfen kann man Land und Leute kennen lernen. Die Austragung des 47. «Eurovision Song Contest» in Tallinn verleiht dem Tourismus in Estland zusätzlich Schub. In Tallinn sind die Hotelpreise geradezu explodiert, und vergangene Woche waren kaum mehr freie Betten in Tallinns Hotels zu finden. Für viele Esten bot sich daher die Gelegenheit, das magere monatliche Durchschnittseinkommen von rund 450 Franken mit der Vermietung von Privatzimmern aufzubessern. Auch das Flugvolumen hat trotz den Terrorattacken vom 11. September im vergangen Monat wieder leicht zugelegt.
Einmalige Gelegenheit
Die finnische Wirtschaftszeitung «Kauppaleht» rechnet dieses Jahr dank Eurovision mit zusätzlich 4000 ausländischen Touristen und daraus resultierend mit Mehreinnahmen von bis zu 94 Millionen estnischen Kronen (rund 9,4 Millionen Franken). Für estnische Verhältnisse ist dies eine ansehnliche Stange Geld. Peeter Rebane, der Produzent des «Eurovision Song Contest», sagte anlässlich der Eröffnung: «Es ist unwahrscheinlich, dass Estland je wieder eine solche Gelegenheit hat, sich Europa zu präsentieren.» Vor allem zu einem solch tiefen Preis, muss man anfügen: Der «Eurovision Song Contest» war mit einem Budget von knapp 8 Millionen Euro gleichwohl das teuerste TV-Projekt in Estlands Fernsehgeschichte.
Baltischer Tigerstaat
Der schwer in Zahlen fassbare Werbewert der Show mit ihren weltweit 100 Millionen TV-Zuschauern wird die Kosten aber um ein Vielfaches übersteigen. Die meisten Esten haben übrigens von der teuren Schweizer Expo.02 bislang nichts gehört. Den «Eurovision Song Contest» kennt man hingegen wohl auch auf den abgelegensten Orten der Weltkugel. Das estnische Aussenministerium liess in einer Pressemitteilung denn auch verlauten: «Eurovision in Estland: ein Milliarden-Werbeprojekt für einen Kleinstaat». Schade, dass die Schweizer nicht besser singen können.
«Was erwarten die Esten vom Jahr 2002?» fragte Siim Kallas, amtierender estnischer Premierminister, im Pressebrief des «Eurovision Song Contest» und beantwortete die Frage grad selbst: «Die Bevölkerung erwartet, dass Estland noch dieses Jahr Nato-Mitglied wird, alle offenen Kapitel mit der EU abgeschlossen sind und dass die Eurovision erfolgreich wird.» Ein Wunsch der Regierung und des Volkes wurde schon erfüllt: Der 47. «Eurovision Song Contest» ging reibungslos über die Bühne, die meisten Journalisten und Interpreten bescheinigten den Organisatoren eine EU-kompatible Durchführung. Von der kommunistischen Vergangenheit zeugten letzte Woche lediglich die grauen Plattenbauten ausserhalb der feierlich geschmückten Altstadt.
Seit 1998 verhandelt die Europäische Union mit Estland über den EU-Beitritt des Landes. «Jetzt klopfen wir nicht nur an die europäische Tür, jetzt treten wir singend ein», verkündete der damalige Ministerpräsident, Mart Laar, auf dem Marktplatz in Tallinn, als im Mai 2001 Zehntausende Esten die letztjährigen Eurovisionssieger Tanal Padar und Dave Benton feierten. Die Beitrittsverhandlungen mit der EU sind mit Beginn der spanischen EU-Präsidentschaft nun in die entscheidende Schlussphase getreten.
Bis Ende des Jahres gilt es, die letzten noch verbleibenden Fragen zu klären, die sich vor allem in den finanziell relevanten Verhandlungskapiteln (Haushalt, Landwirtschaft, Regionalpolitik) stellen. Estland, das 20 der bisher eröffneten 29 Verhandlungskapitel bereits vorläufig geschlossen hat, gehört zu den zehn namentlich von der EU genannten Beitrittskandidaten, die die Chance haben, 2004 als Mitglied der EU an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen zu können.
Der baltische Tigerstaat mit seiner boomenden Wirtschaft ist aus ökonomischer und kultureller Sicht bereit für den EU-Beitritt. So lautete auch die selbstbewusste politische Nachricht, welche der «Eurovision Song Contest» kostengünstig und unüberhörbar in die europäischen Wohnstuben transportierte.
EU-Referendum 2003
Der Wunsch nach einem EU-Beitritt kommt aber längst nicht nur mehr aus den Reihen der Regierung, auch im Volk ist man gegenüber einem Beitritt offener eingestellt. Der Gesangswettbewerb hat die estnischen EU-Gegner geradezu betört: Kurz nach dem letztjährigen Sieg des estnischen Sängerduetts nahm die Zustimmung zu einem EU-Beitritt von 35 auf 45 Prozent zu. Das estnische «Nein zum EU-Beitritt»-Komitee dürfte es nach der erfolgreichen Eurovisions-Show noch schwerer haben, das Referendum im nächsten Jahr gegen einen EU-Beitritt für sich zu entscheiden. Falls der Beitritt trotz anders lautender Voraussagen politischer Beobachter wegen Volkes Stimme nicht klappen sollte, war Estland immerhin «für wenigstens einen Tag das Herz von Europa», wie es ein Journalist der BBC kürzlich ausdrückte.
Nato-Beitritt in Sichtweite
Auch der Wunsch von Regierung und Volk nach einem Nato-Beitritt dürfte bald erhört werden. Die Staats- und Regierungschefs der Nato-Allianz waren sich bei ihrem Treffen in Brüssel am 13. Juni 2001 einig, dass sie bei ihrem nächsten Gipfel in Prag im November 2002 Einladungen zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aussprechen wollen. Eingeladen werden sollen diejenigen Aspiranten, die in der Lage sind, die Verpflichtungen einer Mitgliedschaft zu erfüllen und einen substanziellen Beitrag zur Sicherheit des euro-atlantischen Raumes zu leisten.
Estland wird daher wohl auch mit von der Partie sein, trotz Vorbehalten des ehemaligen Okkupators Russland. Der Kleinstaat arbeitet bereits erfolgreich am beim Gipfel in Washington im April 1999 beschlossenen «Aktionsplan für Mitgliedschaft» (Membership Action Plan, MAP) mit. Der MAP ist ein wesentlicher Anreiz für nachhaltige Reformen der Streitkräfte. Wenn der erfolgreiche «Eurovision Song Contest» seine geplante PR-Wirkung erzielt, dann geht wohl die umfassende Wunschliste des Premierministers bald in Erfüllung, und Estland wird vielleicht für immer ins Herz von Europa vorrücken.
Gesang hat Tradition
bir. Estland blickt auf eine jahrhundertelange Gesangstradition zurück. Die Esten werden oft auch als die «Singende Nation» bezeichnet. Die Loslösung von den sowjetischen Besatzern ging 1991 mit estnischen Volksliedern und Grossaufmärschen der unzähligen estnischen Chöre friedlich über die Bühne; diese Zeit wird rückblickend als die «Singende Revolution» bezeichnet. Allein das estnische Literaturmuseum beherbergt über 1,3 Millionen Seiten mit Volksliedern. Im Hinblick auf den Reichtum an Volksliedern rangiert Estland in Europa auf Platz 2 hinter Irland. Viele Esten können singen und gehören einem der unzähligen Chöre an. Zum estnischen Sängerfestival, das alle fünf Jahre stattfindet und 1994 sein 125-Jahr-Jubiläum feierte, versammeln sich jeweils eine halbe Million Sängerinnen und Sänger.
Wurzeln in der Schweiz
bir. Der «Eurovision Song Contest 2002» in Tallinn war die 47. Austragung des jährlich stattfindenden Schlagerwettbewerbs. Der erste Gesangswettbewerb wurde 1956 in Genf mit sieben Teilnehmerstaaten durchgeführt. Eine gewisse Lys Assia gewann damals die Erstaustragung für das Gastgeberland Schweiz. Seit Beginn des Anlasses haben rund 40 Nationen am Gesangswettbewerb teilgenommen. Damit hat sich die Gründungsidee des damaligen Direktors des Schweizer Fernsehens, Marcel Bezençon, im Rückblick verwirklicht.
Bezençon wollte das durch den sprichwörtlichen Eisernen Vorhang getrennte Europa während des Kalten Kriegs durch die Kraft der Musik näher zusammenbringen. Den Schlagerwettbewerb lehnte er an das in Italien stattfindende «San Remo Song Festival» an.